In diesen Steinen steckt nichts Böses. Kaum ein Name steht so sehr für das Genre Anime wie Hayao Miyazaki. Schon mehrmals hat der berühmte Regisseur und Mitbegründer des Studio Ghibli seinen Rücktritt angekündigt, um dann doch wieder zurückzukehren. Bei seiner letzten Rückkehr kündigte er an, dass er wieder einen neuen Film plane. Es handelt sich um den Film Der Junge und der Reiher, der am 14. Juli 2023 seine japanische Premiere feierte und bei uns bereits am 4. Januar 2024 in die Kinos kam. Ich habe mir den Film angesehen, um zu beurteilen, ob er die hohen Erwartungen, die man an einen Miyazaki-Film stellt, erfüllen kann. Pascal Walther
ACHTUNG: Jegliche Aussagen in diesem Review reflektieren lediglich die persönliche Meinung des Autors und nicht (!) die von PattoTV und seiner Partner.
Flucht aufs Land
Tokio während des 2. Weltkriegs. Der Junge Mahito verliert seine Mutter bei einem der zahlreichen Luftangriffe der Amerikaner auf die japanische Hauptstadt. Das Krankenhaus, in dem sie arbeitet, wird getroffen und sie stirbt in den Flammen. Nach dieser Tragödie beschließt sein Vater Shoichi, der für die japanische Rüstungsindustrie arbeitet, mit seinem Sohn aufs Land zu ziehen. Doch damit nicht genug, denn dort wartet bereits die jüngere Schwester seiner verstorbenen Frau Isako auf ihn.
Die Schwester heißt Natsuko und ist zu allem Überfluss auch noch schwanger. Mahito ist von dieser Situation alles andere als begeistert und lässt seine neue „Mutter“ das auch deutlich spüren. So ist der Konflikt von Anfang an vorprogrammiert. Mahito kann sich nur schwer an das Leben auf dem Land gewöhnen und geht bald nicht mehr zur Schule. Aber auch zu Hause kommt er nicht zur Ruhe. Nicht nur wegen seiner neuen Mutter oder den etwas schrulligen Hausmädchen, sondern auch wegen eines ungewöhnlichen Vogels. Es ist ein Graureiher, der es auf Mahito abgesehen zu haben scheint. Dieser Reiher ist ihm von Anfang an suspekt, auch weil er zu sprechen scheint. Als dieser dann auch noch seine Mutter erwähnt, ist das Fass endgültig übergelaufen.
Doch dann verschwindet Natsuko plötzlich spurlos und ausgerechnet der Graureiher scheint die einzige Chance zu sein, ihr zu helfen. Doch dazu müssen die beiden tief in das Innere eines alten Turms auf dem Anwesen der Familie vordringen.
Stranger in a Strange Land
Im Inneren des Turms findet Mahito eine völlig andere Welt voller seltsamer Kreaturen. Aber auch neue Freunde warten auf ihn, von denen ihm einige seltsam vertraut vorkommen. Natürlich ist auch der Graureiher nicht weit
. Doch diese fremde Welt birgt ihre eigenen Gefahren, die es zu überwinden gilt. Die Grenzen der Zeit selbst scheinen zu verschwimmen, je weiter Mahito vordringt, und der Graureiher ist dabei keine große Hilfe. Nicht zu vergessen die Bewohner des Turms, die fast so seltsam sind wie der Turm selbst, allen voran Natsukos Großonkel, der der einsame Herrscher zu sein scheint.
Die Aufgabe, Natsuko zu finden, scheint fast unmöglich, doch neben den Graureihern hat Mahito noch eine weitere Hilfe in Form des geheimnisvollen Mädchens Himi, das über das Feuer zu herrschen scheint. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach Natsuko, wobei ihnen Scharen von menschenfressenden Wellensittichen auf den Fersen sind. Doch die Vögel haben ihre eigenen Pläne, die Mahito und seine Freunde am Gelingen ihrer Mission hindern könnten.
Ein Feuerwerk der Bilder
Der Junge und der Reiher ist das neueste Werk von Anime-Legende Hayao Miyazaki und Studio Ghibli. Der Film entstand in mehrjähriger Handarbeit, getreu Miyazakis Prinzip, keine CGI zu verwenden. Auch die Geschichte stammt aus der Feder von Miyazaki und ist ein völlig neues Werk. Der Film kam am 14. Juli 2023 in Japan in die Kinos. Im Westen erfolgte der Kinostart gestaffelt einige Monate später in verschiedenen Ländern, darunter Frankreich und die Schweiz. Hierzulande kam der Film ab dem 4. Januar 2024 im Verleih von Wild Bunch Germany in die Kinos.
Miyazakis neuestes Werk stellte mich persönlich vor eine größere Herausforderung als erwartet. Es fällt nicht leicht, ein eindeutiges Urteil zu fällen. Wie es sich für einen Ghibli-Film gehört, ist auch Der Junge und der Reiher ein wahres Animationsfeuerwerk. Gleich zu Beginn wartet der Film mit einer der wohl erstaunlichsten Animationen auf, die das Studio je hervorgebracht hat. Diese Art der Flammenanimation hat mich persönlich sehr beeindruckt. Auch im weiteren Verlauf der Handlung gibt es immer wieder wunderbare Beispiele für den typischen Ghibli-Stil. Teile der Landschaft oder auch die vielen fantastischen Kreaturen erinnern an Miyazakis frühere Werke.
Doch gerade in dieser Fülle an Animationen liegt auch die größte Schwäche des Films. Teilweise wird man beim Schauen von der Bilderflut regelrecht erschlagen, worunter die Handlung leider etwas leidet. Ich finde sie zwar gut inszeniert, auch weil sie etwas schwieriger zu deuten ist und zu Interpretationen einlädt. Dennoch verstehe ich auch jeden, der sagt, dass der Film ihn nicht gut unterhalten hat. Persönlich finde ich den Film unterhaltsam und auch bereichernd, aber er wäre nicht meine erste Wahl, wenn es darum geht, jemanden in die Filme von Hayao Miyazaki oder Studio Ghibli einzuführen. Dafür hat Der Junge und der Reiher eine etwas zu komplexe Handlung, die in der Flut der bildgewaltigen Animationen leider etwas untergeht.
Hochwertige Synchro mit weniger bekannten Stimmen
Die deutsche Fassung von Der Junge und der Reiher entstand bei der Film & Fernseh Synchron GmbH in München unter der Regie von Matthias von Stegmann, der auch das Dialogbuch schrieb. Insgesamt sind 16 Sprecher zu hören.
Insgesamt verfügt der Film über eine durchaus vorzeigbare deutsche Synchronisation, die sich auch vor dem japanischen Original nicht zu verstecken braucht. Die Qualität hebt sich hier deutlich von üblichen Anime-Synchronisationen ab, was bei der Vertonung einer Ghibli-Produktion aber auch zu erwarten ist. So bemühen sich die Sprecher beispielsweise um eine korrekte Aussprache der japanischen Namen. Dennoch muss ich sagen, dass ich von der Auswahl der Sprecher überrascht war.
Es wurden durchweg eher weniger bekannte Stimmen verwendet, was der Qualität zwar keinen Abbruch tut, aber doch etwas aus dem Rahmen fällt. Vor allem wenn man bedenkt, dass zum Beispiel in der amerikanischen Fassung Sprecher wie Mark Hamill, Robert Pattinson und Willem Dafoe zu hören sind. Am Ende ist es zwar wichtiger, dass die Qualität stimmt, aber im internationalen Vergleich steht die deutsche Synchronfassung doch im Schatten der US-Version.
Mindestens ebenso gut wie die Animation ist der Film musikalisch ausgestattet. Das liegt an Miyazakis langjährigem Weggefährten Joe Hisaishi, der auch für Der Junge und der Reiher wieder den Soundtrack komponiert hat. Die Musik passt sehr gut zu den Szenen und trägt zum Eintauchen in die fantastische Welt bei. Das Finale beziehungsweise Titellied des Films, Spinning Globe von Kenshi Yonezu, ist zwar kein Meisterwerk, fügt sich aber gut in das Gesamtbild des Films ein.
Fazit
Der Junge und der Reiher ist im Gesamteindruck ein typisches Ghibli-Meisterwerk von Hayao Miyazaki, das für die damalige Zeit untypisch noch komplett von Hand gezeichnet wurde. Diese Handarbeit fällt sofort auf, ebenso wie der charakteristische Ghibli-Stil der Charaktere. In gewisser Weise hat der Film also auch etwas Nostalgisches. Trotzdem muss ich sagen, dass dies weder Miyazakis noch Studio Ghiblis bestes Werk ist. Dafür ist die Konkurrenz der vergangenen Filme einfach zu groß.
Die Handlung wirkt teilweise einfach zu überladen und vor lauter bildgewaltigen Animationen sieht man manchmal den Wald vor lauter Bäumen, oder in diesem Fall Wellensittichen, nicht mehr.
Deutscher Trailer:
Generell bewegt sich der Film auf einem schmalen Grat zwischen Unterhaltung und Bereicherung. Einerseits soll der Film mit seiner Geschichte und Animation unterhalten, andererseits aber auch durch die vielen Metaphern und Botschaften in der Handlung geistig bereichern.
Letzteres lässt natürlich viel Raum für Interpretationen, aber das war bei Miyazakis Filmen schon immer so. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass Der Junge und der Reiher nicht der erste Ghibli-Film sein sollte, den man sich anschaut. Was aber die deutsche Fassung betrifft, so kann man sich diese getrost als einzige ansehen, ohne befürchten zu müssen, dass man im Vergleich zum japanischen Original etwas verpasst.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Der Junge und der Reiher das Meisterwerk ist, das man von Hayao Miyazaki erwartet, wenn nicht sein Magnum Opus, so doch vielleicht sein persönlichster Film.
Kurzfazit
Der Junge und der Reiher ist ein empfehlenswerter Film für alle Ghibli- und Miyazaki-Fans, die ein wenig Nostalgie tanken oder sich emotional bereichern lassen wollen. Auch Liebhabern einer guten deutschen Synchronisation sei der Film wärmstens empfohlen.
Bilder: © STUDIO GHIBLI 2023
FOLGE PATTOTV AUF